Wer will ein Juist aus den 70er Jahren?
5. Mai 2021 // Wir wollen keine Verhältnisse wie in den 70er Jahren — so oder ähnlich setzen manche Kommentare in den einschlägigen Juister Gruppen auf Facebook an. Dusche und Toiletten auf dem Gang werden immer mal wieder angeführt als Schreckensszenario für — ja, was eigentlich? Irgendwie soll das mit dem historischen Bahnhof zusammenhängen. Eine abenteuerliche Argumentation, die mit dem Erhalt dieses Juister Wahrzeichen nun wahrlich nichts zu tun hat.
Worum es geht
Gaststätte: Na klar!
„Offenbar muss klargestellt werden: Niemand hatte je etwas gegen ein gutes Restaurant im alten Juister Bahnhof. An keiner Stelle wird man eine Äusserung finden, in der sich ein Bahnhofsschützer gegen den Betrieb einer Gaststätte ausgesprochen hat. Wenn man nur halbwegs aufmerksam mitgelesen hat, dann weiss man: Das Gegenteil ist der Fall.“
aus: Geht es nur um eine Gaststätte, 19. April 2021
Bevor wir auf die 70er Jahre kommen, muss eine deutliche Klarstellung erfolgen: Bereits in dem Artikel „Geht es nur um eine Gaststätte?“ haben wir darauf hingewiesen, dass die Juister Bahnhofsfreunde den Betrieb einer Gaststätte in dem alten Gebäude klasse finden (siehe Kasten).
Es geht uns um die ohne Genehmigung errichtete Mauer, die den Blick versperrt und einen rücksichtslosen Eingriff in die historische Bausubstanz darstellt.
Das „Argument“
Zurück zu den 70er Jahren: Da gab es vor kurzem wieder einen Kommentar auf Facebook, der das Bauen ohne Genehmigung einfach ausblendete, aber unbedingt den „gelungenen Umbau“ loben wollte. Irgendwie scheint es für manche schwierig zu sein, die illegalen Baumassnahmen von dem Stil der Ausseneinrichtung zu unterscheiden. Sieht gut aus, deshalb ist alles ok? Natürlich nicht!
Aber da war es eben wieder, das „Argument“. Na, wenn es schon im Raum steht, dann beschäftigen wir uns doch mal damit — auch wenn es nicht das Kernthema der Bahnhofsfreunde ist:
Das Juist aus den 70er Jahren oder vorher ist sicherlich heute nicht mehr konkurrenzfähig und wäre zum Sterben verurteilt.
Die erste Frage dazu lautet: Was hat eine behutsame und dem historischen Rahmen angemessene Ertüchtigung des Bahnhofsplatzes mit den 70er Jahren zu tun? Die Antwort ist einfach: gar nichts. Abgehakt.
Die zweite Frage ist interessanter: Wäre das Juist der 70er Jahre heute tatsächlich „nicht mehr konkurrenzfähig“ und „zum Sterben verurteilt“? Da lohnt eine genauere Betrachtung.
70er Jahre: wie furchtbar!
Intuitiv rutscht da schnell heraus: Natürlich wünscht sind niemand Verhältnisse wie damals. Das war ja fast vorsintflutlich!
Wenn man herumfragt, dann stellt sich aber schnell heraus, dass erstens die Jüngeren keinen Schimmer von dem haben, was damals prägend war — und zweitens die Älteren die Zeit dann doch ein bisschen vermissen. Was war damals also eigentlich los? Kramen wir mal Beispiele heraus:
Da gab’s das damals viel lebendigere Treiben am Strand: Strandburgenbau, gemeinsames Volleyballspielen, das waren Aktivitäten, die heute weitgehend verschwunden sind. Schön war’s oder? Könnte man heute wieder machen? Aber es ist eben 70er — so etwas passt heute nicht mehr. Meinen manche.
Ganz viele vermissen die hübschen kleinen Personenfähren, die heute durch grosse, funktional optimierte Schwimmkörper ersetzt wurden. Noch mehr Gäste vermissen den Anleger und natürlich die Inselbahn. Und alle, die es noch erlebt haben, vermissen die viel persönlichere, teils einzigartige Atmosphäre bei Ankunft und Abfahrt am Bahnhof. All das hat man ohne Not abgeschafft. Wären diese einzigartigen Merkmale heute altmodisch und unrentabel?
Manche vermissen das alte Ortsbild, beispielsweise die intakte Häuserzeile der Billstrasse. Hmm, ja, in den 70ern war sie noch da, die typische, weitgehend intakte regionale Architektur, die sich doch recht harmonisch ausnahm. Aber was will man da machen? Man muss doch mit der Zeit gehen! Und hatten damals nicht alle noch Toiletten und Duschen auf dem Gang? Das will heute niemand mehr, das ist völlig out!
Zurück in die Zukunft?
Ja, in den 70ern gab’s in vielen Pensionen tatsächlich noch Toiletten und Duschen auf dem Gang. Bäh! Geht gar nicht — das wäre heute nicht mehr konkurrenzfähig!
Allerdings werden auch heute noch manche das Badezimmer auf dem Gang vermissen: Die einen, die sich schlicht eine einfache und bezahlbare Unterkunft wünschen und gerne auf den Luxus eines eigenen Bads verzichteten — wenn sie sich deswegen überhaupt einmal einen Urlaub in einer Pension auf Juist leisten könnten.
Das kann man sich auf Juist aber wohl nicht vorstellen. Der Trend geht zu wohlhabenderen Gästen, sogenannten „Lohas“ (Lifestyles of Health and Sustainability; Erklärung bei Wikipedia), wie Marketingchef Thomas Vodde es im Spiegel-Artikel von 2016 formulierte. „Urlauber mit überdurchschnittlichem Einkommen“ wolle man anlocken. Da passen Gäste mit niedrigeren Ansprüchen eher nicht in die Planspiele der Inselverantwortlichen.
Hmm, Gäste mit hohem Einkommen — war da nicht doch etwas? Ja, man mag es kaum glauben, aber einfache Unterkünfte sind auch für „Einkommensstarke“ nicht uninteressant: Im Heu in der Scheune zu übernachten, mit einer Gemeinschaftsdusche, das ist für manche UrlauberInnen, die die Schnauze voll haben vom austauschbaren Einerlei der gehobenen Standardunterkünfte, durchaus reizvoll.
Auch für Manager-Team-Buildings sind solche „Downsizing“-Angebot reizvollen Möglichkeiten, um aus dem Business-Alltag auszubrechen.
Auf einer Insel, die damit wirbt, dass man sein Mobiltelefon zum Beginn des Urlaubs abgeben kann, da ist der Gedanke an eine Entschleunigung, an ein „back to the roots“ vielleicht gar nicht so abwegig, oder? Die apokalyptischen Reiter, für die die blosse Möglichkeit eines „einfacheren“ Urlaubs ein Sterbensszenario heraufbeschwört, werden an solche Entwicklungen nicht denken, wenn sie in rücksichtslos in historische Bausubstanz und gewachsene Strukturen hineingepfropften „schicken“ Plätzen sitzen und konsumieren.
Kaum jemand wird den Mief der 70er wiederhaben wollen, aber deswegen die liebenswerten Errungenschaften der damaligen Zeit rundherum abzulehnen und ein Sterbeszenario damit zu verbinden, das ist viel zu kurz gedacht. Und auch ein wenig respektlos.
Was also spricht gegen einen einfacheren Urlaub — ausser den übersteigerten Gewinnabsichten mancher Vermieter und Gastronomen?
Nicht ganz uninteressant, diese Betrachtungen, oder? Möglicherweise auch ein Anlass für eine kontroverse Diskussion. Ja, mag sein — aber mit der Verschandelung des Bahnhofs hat das alles nichts zu tun. Höchstens mit der Unfähigkeit Mancher, unterschiedliche Dinge richtig einzuordnen.