Als Jan den Juister Bahnhof in sein Herz schloß
Der Bahnhof war nicht wichtig. Eigentlich lag er mehr wie ein Hindernis vor Jan. Er wollte schnell hindurch und endlich die Insel von Nahem sehen. Seine Mutter hatte ihm vom Schiffchenteich erzählt, der gleich beim Bahnhof liegen sollte. Jan bahnte sich einen Weg durch die vielen Reisenden. Nein, der Bahnhof war wirklich nicht wichtig.
Schließlich kannte er viel größere. Lübeck, Hamburg, Bremen, da war er schon überall gewesen. Was sollte ihn also so ein kleiner Bahnhof interessieren? Jan träumte von elektrischen Loks und schnellen Zügen. Dass der D‑Zug zwischen Hamburg und Bremen noch von einer Diesellok gezogen wurde, fand er enttäuschend. Ab Oldenburg wurde vor die Waggons sogar noch eine Dampflok gesetzt — wie rückständig!
Allerdings war die Zugfahrt trotzdem aufregend gewesen. Lange hatte sie gedauert, mehrmals wurde umgestiegen. Reisen mit der Bahn, das fand Jan klasse. Die Brote im Zugabteil hatten geschmeckt, Mutters Stimmung war gut und Vater grummelte nicht mehr als sonst, ja, er war fast gut gelaunt. Die Geschwister Jürgen und Anne schienen ähnlich gespannt wie Jan. Es war der erste Familienurlaub.
Ein wenig peinlich war es ihm schon gewesen, als seine Freunde an den letzten Schultagen vor den Sommerferien von ihren geplanten Urlaubsfahrten erzählten. Lutz würde mit seiner Familie im Auto bis in die Alpen fahren. Martin flog mit seinen Eltern sogar ans Marmarameer. Marmarameer — das klang aufregend. Reisen mit dem Flugzeug noch viel mehr!
Berge hatte Jan noch nie gesehen, außer auf Fotos in Büchern. Der Himmel war stets strahlend blau, die Berge unvorstellbar hoch. Dabei beschlich ihn immer ein mulmiges Gefühl. War es dort nicht gefährlich? Würde man nicht abstürzen? Und in ein fremdes Land zu fahren, das konnte sich Jan schon gar nicht vorstellen. Bis auf Amerika vielleicht. Ob er sich aber trauen würde, mit einem Flugzeug zu fliegen?
Juist also. Mutter hatte geschwärmt, als sie letztes Jahr von der Kur zurückgekommen war. Die kleine ostfriesische Insel hatte ihr gut gefallen. Sie hatte ein paar Prospekte mitgebracht. Schöne Bilder waren darin zu sehen, fand Jan. Als Mutter von den hohen Wellen erzählte, von Ebbe und Flut, da wünschte er sich sofort, einmal dort zu sein. Das sah schon toll aus, anders als die Ostseeküste mit ihrem meist ruhigen Wasser. Manchmal fuhren sie zum Baden nach Travemünde. Klar, das war auch gut, aber solche Wellen wie auf den Juister Prospektfotos, das war doch etwas völlig anderes.
Als die Eltern dann im Winter erzählten, dass es in den Sommerferien tatsächlich nach Juist gehen sollte, war er begeistert. Aber es war ja noch so lange hin!
Sieben Monate später saßen sie dann endlich zu fünft in der kleinen Inselbahn. Schon das Umsteigen vom Schiff, der seltsame Anleger mitten im Meer, auf dem ein kleiner Zug wartete, all das war toll. Jan musste aufpassen, in dem Gewimmel nicht seine Eltern zu verlieren. Einige Menschen rannten in Richtung der blassblauen Wagen, als wollten sie die besten Plätze ergattern. Jan wusste, dass die Fahrt nur wenige Minuten dauern würde und wunderte sich über die Hektik. Das hier war doch keine lange Strecke! Zwischen Hamburg und Bremen, ja da war es schon gut, ein Abteil für sich zu haben — aber hier? Es gab ja noch nicht einmal Abteile! Jan sah den offenen Führerstand im Zug und drängte seine Eltern, einen Platz nah beim Lokführer zu bekommen.
Natürlich war diese Fahrt nicht zu vergleichen mit der Zugfahrt von Hamburg nach Bremen, als die knallrote V200 teilweise auf mehr als 120 km/h beschleunigte. Anhand der weißen Steine an der Bahnstrecke maß Jan die benötigte Zeit pro Kilometer und sein Bruder rechnete die Geschwindigkeit aus. War das schnell!
Dagegen ging es in der Inselbahn weitaus langsamer voran. Und ziemlich wacklig. Jan schaute vorne am Zugführer vorbei auf die überhaupt nicht geraden Schienen. Er war ängstlich wegen des Wassers um sie herum. Was würde passieren, wenn der Zug umkippte? Er war kein guter Schwimmer.
Die lange Rechtskurve brachte sie näher an die Inselhäuser heran. Mutter deutete auf ein strahlend helles Haus. Dort würden sie wohnen. Es sah schön aus, fast erhaben. Auf dem Deich lagen Menschen auf Handtüchern, andere standen und winkten. Jan gefiel das.
Als der Zug am Bahnhof hielt, hatte Jans Vater bereits beschlossen, das Geld für den Koffertransport zu sparen. Man würde das Gepäck selbst zur Pension tragen. Die Sonne schien, alle waren zu warm angezogen. Sie betraten das Bahnhofsgebäude. Dort war es angenehm kühl. Vor den Türen zur Insel hin sah Jan einige Menschen stehen. Als er in das helle Licht trat, war er überrascht, dass da drei Fotografen auf kleinen Trittleitern standen. Was wollten die dort? Die fotografierten doch wohl nicht ihn?
Schnell ging er die paar Stufen hinunter und drehte sich um, als er an den Fotografen vorbei war. Seine Eltern und Geschwister waren ein paar Meter hinter ihm. Auch auf sie richteten die Fotografen ihre Kameras, während sie irgend etwas riefen. Seine Mutter lachte. Also war wohl alles in Ordnung.
Hufgeklapper. Pferdekutschen. Viele Fahrräder. Keine Autos. Jan fühlte, dass er in einer neuen, fremden Welt angekommen war. Sie sollte sein zweites Zuhause werden, in vielen kommenden Sommern seiner Kindheit.
Den neuen, hellblauen Rucksack mit grauen Seitentaschen stolz auf dem Rücken, schaute sich der Junge um. Dort hinten im Park, das musste der Schiffchenteich sein, von dem Mutter erzählt hatte. Viel war dort nicht los. Jan wäre trotzdem am liebsten sofort hingelaufen. Ob er ein Boot bekommen würde? Er hoffte es so sehr! Doch jetzt hieß es erst einmal, zur Pension zu laufen.
Es gab zwar so etwas wie einen Pferdebus, aber das würde zu teuer sein, dachte Jan. Also ging man eben zu Fuß. Vater schleppte sichtlich schwer an zwei Koffern. Jürgen trug ebenfalls zwei, um den älteren war ein brauner Strick gebunden. Mutter mühte sich mit einer großen Reisetasche ab, Anne half dabei.
Der Weg erschien Jan endlos. Endlich kamen sie an dem fast weißen Haus an, das Jan bereits von der Bahn aus gefallen hatte. Eine ältere Dame begrüßte sie und führte sie in ihre zwei Zimmer, die mit einer Tür verbunden waren. Jan stutzte. Da war ein Fenster, von dem aus er in einen anderen, großen Raum schauen konnte. Fenster im Haus? So etwas hatte er noch nie gesehen. Mutter erklärte, dass in dem großen Raum gegessen würde. Praktisch, dachte er, da kann ich immer schon vorher sehen, was es gibt. Hoffentlich nichts mit Tomate.
Jan schaute auf die vielen Tische und sah zwei jungen Frauen zu, die Geschirr aufdeckten. Nachher würde es Abendessen geben, erzählte die ältere Dame beim Hinausgehen. Jan war zwar hungrig, aber auch müde von der langen Reise. Er legte sich auf sein Bett und war im Nu eingeschlafen.
Drei lange Sommerwochen waren um — viel zu schnell, fand Jan. Er wollte nie wieder weg von dieser Insel. Traurig trottete er seinen Eltern hinterher, von der Pension in Richtung Bahnhof. Der hellblau-graue Rucksack war etwas voller und schwerer als auf der Hinreise, denn Jan hatte ein kleines Segelboot bekommen. Der sonst eher blasse Junge war braungebrannt, seine Haare waren gebleicht.
Jan hing seinen Gedanken nach. Was für eine tolle Zeit er hier gehabt hatte! Anders als zu Hause hatten die Eltern ihm auf der Insel erlaubt, dass er alleine unterwegs war. So lief er an den Strand, in den Ort und zu den Pferden vorm Deich, wann immer er Lust dazu hatte.
Besonders hatte ihm der Schiffchenteich gefallen. Vor dem Abendessen ging er dort gerne hin. Sein Boot war zwar kleiner als viele andere, aber wichtig war, dass er überhaupt eines hatte. Er plante schon einige Verbesserungen an dem Segelschiff, wenn er wieder daheim war. Daheim — eigentlich wollte er da gar nicht mehr hin.
Am Schiffchenteich hatte Jan irgendwann mitbekommen, dass es bei der Ankunft neuer Gäste manchmal größere Menschenansammlungen am Bahnhof gab. An seinem Ankunftstag waren da nur wenige Menschen gewesen. Aber sie waren ja auch am frühen Nachmittag angekommen und es war damals bestes Strandwetter — viele Menschen waren da nicht im Dorf gewesen.
An wolkenverhangenen Spätnachmittagen aber war alles anders. Viele Menschen flanierten im Dorf und wenn ein Zug ankam, dann versammelten sie sich am Bahnhof. Jans Neugier war geweckt, als er das zum ersten Mal mitbekam, denn die Menge rief immer wieder etwas.
Er nahm sein Segelboot und lief hinüber zum Inselbahnhof. Als er näher kam, sah er lachende Menschen, die die neuen Urlauber begrüßten. Jetzt verstand Jan, was die Menge rief: Ein langgezogenes „Oh wie blaaass!“ war der Willkommensgruß für alle, die keinen Hut trugen. „Blaaass“ mit ganz langem „a“, das war wichtig. Wenn jemand wirklich blass war, dann wurde besonders laut gerufen, fand Jan schnell heraus. Er war begeistert dabei, mit allem, was seine Stimme hergab.
Aber eigentlich warteten die Menschen nur auf jemanden mit Hut. Wenn so ein Hutträger durch die Bahnhofstür nach draußen trat, dann steigerte sich die Menge in ein rhythmisches, fast hämmerndes „Hut ab! Hut ab! Hut ab!“ Nicht jeder neue Inselgast verstand, was von ihm erwartet wurde. Manche drückten sich erstaunt oder verschüchtert seitlich an der Menge vorbei. Andere aber lüfteten ihre Kopfbedeckung — und ernteten großen Applaus. Was für ein Spaß!
Für Jan waren es wunderbare Erlebnisse, wenn ein Zug mit Urlaubern ankam und sich genügend Menschen am Bahnhof versammelt hatten. Jetzt verstand er auch, was die Fotografen da machten! Sie hielten diese ganz besonderen Momente fest. Und Jan ging immer wieder zu den grossen Tafeln, die vor den Fotogeschäften hingen. Dort suchte er die Bilder der neuen Gäste, die bei ihnen in der Pension wohnten. Nach den Fotos von Menschen mit Hut schaute er besonders.
Nun würde all das vorbei sein, denn die Ferien waren zu Ende. Missmutig schleppte er sich die Billstraße entlang. Zu allem Überfluss hatte er sich für den Reisetag auch noch schick anziehen müssen. Er mochte das überhaupt nicht, aber Mutter war unerbittlich. Die braunen Lederschuhe drückten jetzt schon. Wie viel schöner war es, barfuß mit Badehose und Nicki unterwegs zu sein!
Abschiedsstimmung war nichts für Jan, das wusste er nun. Ob er jemals so traurig gewesen war? Er stieg die Treppenstufen zum Bahnhof hoch und schaute sich um. Natürlich war jetzt keine Menschenmenge da, schließlich fuhr der Zug ja ab und kam nicht an. Aber Jan sah den Bahnhof jetzt mit anderen Augen. Er hatte diesen Platz ins Herz geschlossen und er wusste, dass er hierher zurückkommen würde. Vielleicht sogar später als Erwachsener, ja, bestimmt — schließlich waren sogar alte Menschen dabei, wenn neue Gäste mit diesem Spektakel begrüßt wurden.
Daheim würde Jan seinen Freunden viel von Juist erzählen können. Die Bahnhofgeschichte würde ganz sicher dazu gehören, das wusste er. So etwas hatten Lutz und Martin bestimmt nicht erlebt. Jan spürte, dass dieser Bahnhof ein ganz besonderer Ort war.
Auf der zweiten Fahrt seines Lebens mit der Inselbahn verbesserten lediglich die Menschen auf dem Deich, die den Abreisenden mit Handtüchern und Bettlaken hinterher winkten, seine Stimmung. Die Rückfahrt mit der Frisia VI nach Norddeich-Mole, wo sie von Autoabgasen statt von einer fröhlichen Menge begrüßt wurden, der wartende Zug — immerhin mit einer Diesellok — all das war diesmal nur nebensächlich für Jan. Auch die schicke, dunkelblaue E10 vor dem D‑Zug ab Bremen interessierte ihn nur am Rande. Immerhin fuhren sie 140 Stundenkilometer — aber Jan war nicht besonders bei der Sache, als er die Kilometersteine ablesen wollte. Immer wieder verpasste er einen.
Er dachte an seine Insel, an den Inselbahnhof und die vielen Menschen, mit denen zusammen er dort etwas erlebt hatten. Etwas Besonderes. Gemeinsam. Jan wünschte sich, dass das für immer so sein würde. Klar, dachte er, das wird für immer so bleiben. Warum sollte jemand etwas so Tolles ändern?